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Dr. Anton Gugg
Zwischen Zaubergarten und Lichtkunst
Bemerkungen zu den Keramiken von Andrea Sigl
Die Verschleierung des Materialcharakters ist ein besonders auffälliges Merkmal der Postmoderne. Galt in der „klassischen“ Moderne noch das ästhetische Hauptgebot, die stofflichen Maskierungsspiele etwa des Historismus als verwerfliche Kunstlüge zu entlarven und nach schroffen Gegenstrategien der Funktionalität und Materialwahrheit zu suchen, so hat sich die „Kampfmoral“ gut hundert Jahre später umgekehrt. Heute ist die Wahrnehmungsirritation des Materiellen ein hervorstechendes Merkmal insbesondere bei allen plastischen Erscheinungsweisen.
Alles Skulpturale stellt heute an den Betrachter die Frage: „Woraus bin ich gemacht!“ Der Camouflage sind keine Grenzen gesetzt, wobei der industrielle Kunststoff alle „Kunststücke“ spielt, um natürliche Substrate vorzutäuschen oder sich in die stoffliche Diffusität zurückzuziehen. Auch die Erscheinungsweisen des Keramischen geraten in dieses schillernde Wechselspiel zwischen „echt“, „falsch“ und „unbekannt“.
Eine für die generelle ästhetische Problemlage sensibilisierte Keramikerin wie Andrea Sigl steigt bewusst in die Auseinandersetzung mit geliehener und tatsächlicher Materialsprache ein. Ihr Objekte – traditionelle Lampen oder in den Formenschatz des Biologisch-Naturwissenschaftlichen weitergetriebene Leuchtkörper von eigenartigem, schwerelosem Charakter – konfrontieren den Betrachter sofort mit ihrer ephemeren, gleichsam nur für den Moment bestehenden Substanzialität. Andrea Sigls Arbeiten sind nicht wirklich fassbar. Sind es bildhauerische Skulpturen oder „lichtbringende“ dekorative Objekte, sind es eigenständige Kunstwerke oder schmückende Ausstattungsgegenstände? Alles und nichts von dem ist zutreffend. Diese Arbeiten leuchten, aber es sind keine funktionellen Beleuchtungskörper, keine Lichtspender im praktischen Sinn. Sie verströmen eine Lichtaura, ein zartes dämmriges Lichtfluidum, das den Raum nicht wirklich erhellt, sondern diffuse atmosphärische „Schimmer-Inseln“ bildet. Dieses sanfte Leuchten hat keine bestimmte Farbigkeit, keine banale Gerichtetheit, sondern eine Art „Sakralwärme“, die auch etwas vom Talmiglanz des Schummrigen in sich hat.
Sigls Licht ist nichts für Kirchenräume, aber auch nichts für den erotischen Klub. Es hält die Balance zwischen diesen polaren Sphären. Der Raum verändert sich, wenn man den Lichtschalter am Kabel bedient – das einzige „praktische“ Element an diesen fantastischen, an Korallenstämme und floral-animalische Unterwasserwesen erinnernden „Zaubergebilde“. Aber am meisten verändert sich das Objekt, wenn man es „ausknipst“. Es kehrt aus der ungreifbaren, wie von anderswo herüberleuchtenden „Märchensphäre“ zurück in die reine Kunstsphäre. Das Keramikobjekt, das eben noch semitransparent und von einem eigentümlichen „Schein“ durchströmt war, wird greifbar und in seinem materiellen Bestand kontrollierbar.
Von Licht geleert, offenbaren die nun „erkalteten“, oft auf runden Unterlagen zu blütenhaften Arrangements komponierten Objekte ihre eigentliche Beschaffenheit. Der Stoff, aus dem Andrea Sigls Keramikwelt besteht, entpuppt sich als weißes Porzellan – hochgebrannt, beschnitzt und bar jeder glänzenden Glasur. Das europäische Lieblingsmaterial des 18. Jahrhunderts, dem die absolutistische Herrscherschicht in einem kollektiven Herstellungs- und Sammelwahn verfallen war, wird von der Salzburger Künstlerin allerdings ganz seines luxuriösen Charakters, seines Nippes-Charmes entkleidet. Aus dem Grundstoff für anmutige, dekorative Nebensächlichkeiten, aber auch für niedere moderne Sanitärartikel verwandelt sich Porzellan in eine besondere organische Masse, die nach eigenen Gesetzen auszutreiben und aufzublühen scheint. Diese Metamorphose basiert auf jahrelangen Material- und Herstellungsstudien.
Andrea Sigl verbringt viel Zeit mit dem Aufspüren bestimmter Lieferadressen für eine später im Brand nicht ins Grüne stechende Basissubstanz, mit dem Austüfteln bestimmter Feuchtigkeitsgrade des Formmaterials und nicht zuletzt mit Stützkonstruktionen, die ihre extrem dünnwandigen Kreationen in der Ofenhitze stabil halten. Solche Wundergebilde, die wie von Adernetzwerken und fragilen Gerippen durchzogen scheinen, entstehen nicht aus dem handwerklichen Ungefähr. Es bedarf höchster Materialkenntnis, um die Möglichkeiten des noch Machbaren in dieser Form auszureizen.
Andrea Sigl startete mit ihrer Arbeit dort, wo die Mehrzahl der innovativen KeramikerInnen ihrer Generation den gestalterischen Ausgangspunkt setzten. In dieser Anfangsphase geht es meist um eine extravagante Interpretation von Gefäßtypen aus der Wohnsphäre, von Vasen und Schalen. Die Entwicklung einer signifikanten Materialsprache ist ebenfalls ein Hauptanliegen beginnender Keramikkünstler.
Bei Andrea Sigl mündet dieses Experimentierstadium in der Meisterschaft der „Entkörperung“ des Materials und der affirmativen Formannäherung an submarine Organismen, aber auch an orientalische „Märchengebilde“, etwa mehrteilige Deckenhänger. Die Übersetzung von Lichtampeln, wie sie in Moscheen, aber auch im privaten Bereich Ausstattungsstandards sind, ist aber niemals Anbiederung ans fremde, exotische Kunsthandwerk. Vielmehr verhindert die kühle Aura der Pozellanauffassung und der keramischen Ausführung jeden Anflug des Prätentiösen.
Andrea Sigls Objekte bleiben immer Kunst, obwohl sie benützt werden können: Sie sind „wirklich“ und zugleich „unwirklich“ – körperliche Objekte, ausgestattet mit dem Potential des Verschwindens. Sublimer kann Keramik nicht an den Rand ihrer traditionellen Existenzmöglichkeit geschoben werden. Anmutiger kann die zeitgenössische Befragung eines Zivilisations-Urstoffes nicht ausfallen.